Die stadtpolitische Initiativenlandschaft Berlins ist groß und vielfältig. Wir wollen die Initiativen und ihre Arbeit vorstellen.

Eine bezahlbare Wohnung oder einen bezahlbaren Gewerberaum in Berlin zu finden, ist für viele Mieter*innen fast unmöglich geworden. Gleichzeitig stehen viele Wohnungen und Gewerberäume leer, oft ganze Häuser. Die Initiative Leerstandsmelder.de sammelt gut recherchierte Beobachtungen auf ihrer Website. Ein Interview mit ihrem Mitglied Jay

Das Logo des Leerstandsmelders ist auch als Aufkleber zu haben

Was war der Anlass der Organisierung und Gründung eurer Initiative?

Leerstandsmelder.de wurde 2012 in Hamburg vom Gängeviertel e.V. entwickelt und kurz darauf von einer Gruppe Geograf:innen, Architekt:innen und stadtpolitisch Interessierten auch nach Berlin geholt.

Ich bin vor gut einem Jahr dazugekommen; eine ganz einfache Mieterin, die wie viele andere von Gentrifizierung betroffen ist.

Damals ging es noch vorwiegend um brachliegende Flächen mit ungeklärten Besitzverhältnissen, also um Möglichkeitsräume. Heute geht es meist um Leerstand mit System, also um spekulativen Leerstand in der Verwertungskette des Immobilienmarktes. Das betrifft nicht nur die vielen bekannten Problemimmobilien unserer Stadt, sondern auch diverse einzelne Wohnungen oder Hinterhäuser sowie unzählige Dauerbaustellen – also Objekte, die durch Scheinsanierung unbewohnbar gehalten werden.

Spekulation ist erwiesenermaßen sozial schädlich.Der immer wieder gerne beispielhaft herangezogene nette Vermieter, der bei der Instandsetzung seines geerbten Eigentums in Schwierigkeiten kommt und deswegen übermäsßig lange Leerstand verursacht, ist mir noch nicht begegnet. Zudem gibt es in Berlin diverse Organisationen, Konzepte und somit Unterstützung für den überforderten Beispiel-Vermieter, um den zweckentfremdeten Raum in eine sinnvolle Nutzung zu überführen – wenn der/die Eigentümer:in das möchte.

Neben dem natürlichen oder genehmigten Leerstand im Rahmen regulärer Baumaßnahmen stehen aus verschiedenen Gründen weitere Flächen langzeitig leer, teils auch ganz legal. Wie hoch ist zum Beispiel die Quote der brachliegenden Luxusflächen, also kaum genutzter Zweit-, Dritt- und Viert-Apartments oder in wie vielen Wohnungen steht nur der Koffer in Berlin? Wie hoch ist deren Anteil im Verhältnis zu unserem derzeitigen Wohnraumbedarf? Das sollte ermittelt werden.

Was ist der Schwerpunkt eurer Arbeit?

Wir erfassen die Leerstände unserer Stadt: Einzelwohnungen, Gebäude, Gewerbeflächen, historische Gebäude. Diese werden zwar rechtlich unterschiedlich behandelt, trotzdem bleibt Leerstand ungenutzter Raum – und Leerstand ist Stillstand.

Das ist bei der aktuellen Raumknappheit Berlins unverzeihlich. Wir wollen Transparenz für alle schaffen und damit eine Debatte über den verantwortungsvollen Umgang mit Leerständen anregen. Bestenfalls können wir mit unserer Plattform Vernetzung vorantreiben; es gibt tolle zukunftsorientierte Ideen und Projekte zu Umnutzung und Zwischennutzung, die so manchen Leerstand sofort beleben könnten. Die sinnvollsten Ideen zur Deckung des gesellschaftlichen Bedarfs kommen meist aus der direkten Nachbarschaft.

Unserer Erfahrung nach gibt es beim Thema Leerstand in der Bevölkerung einen sehr deutlichen Konsens: Niemand sieht dem Haus in der Nachbarschaft gerne beim Verfall zu!

Deswegen versuchen wir, die Aktivität der Schwarmintelligenz voranzutreiben und hoffen, dass die rege Beteiligung der Berliner:innen weiter so ansteigt wie im letzten Jahr. Wir benötigen viele Stimmen unserer Zivilgesellschaft, also aktuelle Einträge und Kommentare auf Leerstandsmelder.de, um statistische Auswertungen erheben und damit dann politisch aussagekräftig argumentieren zu können. Die offizielle Leerstandsquote beträgt 0,9 Prozent, in Realität ist die Quote garantiert höher.

In welchem Gebiet/Stadtteil/Bezirk seid ihr aktiv?

Wir sind in ganz Berlin aktiv.

Mit wem seid ihr vernetzt?

Wir sind mit vielen stadtpolitischen Initiativen Berlins vernetzt und durch den Austausch mit unseren derzeit 36 anderen Leerstandsmelder-Standorten in Deutschland, Österreich und Luxemburg auch städteübergreifend aktiv. Es gibt auch erste Anfragen aus dem weiteren europäischen Raum.

Auf welche Schwierigkeiten stoßt ihr bei eurer Initiativenarbeit?

Die sachliche Erfassung von Leerstand ist nicht immer einfach. Dafür ist eine solide Recherche notwendig – wir wollen ja keine Verleumdungsplattform sein. Manche kritischen Stimmen befürchten, dass die Einträge auf Leerstandsmelder.de Spekulant:innen helfen könnten, Immobilien zu verwerten. Diese Sorge hat sich in gut zehn Jahren Leerstandsmelder.de aber nicht bestätigt – wohl auch, weil die meisten Objekte bei uns gelistet sind, da sie schon Teil der Verwertungsmaschinerie geworden sind.

Die Immobilienwirtschaft ist bereits gut vernetzt – aber wir Bürger:innen nicht.

(Wie) können Interessierte bei euch mitmachen?

Zum einen natürlich dadurch, dass sie Leerstandsmelder.de aktuell halten, indem sie Leerstände eintragen oder ältere Einträge überprüfen und kommentieren. Wer uns darüber hinaus unterstützen will – einfach melden (berlin@leerstandsmelder.de)! Wir haben für jede Fähigkeit etwas zu tun und können weitere Kapazitäten jederzeit sinnvoll nutzen. Besonders benötigen wir Leute mit Programmierkenntnissen!

Welches Potential für gesellschaftliche Veränderung seht ihr in eurer Initiativenarbeit?

Unsere überregionale Vernetzung aller Leerstandsmelder:innen bietet viel Potenzial; bei uns treffen viele unterschiedliche Kontexte aufeinander, denn die wenigsten von uns beschäftigen sich ausschließlich aus dem Nichts heraus mit dem Thema Leerstand. Unsere Plattform ist also ein Angebot an Aktivist:innen für weiteren überregionalen Austausch.

Mit Leerstandsmelder.de erfassen wir eindeutig wo, wie und teils von wem „Eigentum verpflichtet“ missachtet wird. Nicht zuletzt durch die kartografische Darstellung wird auch deutlich, in welchen Bezirken und Regionen beziehungsweise. bei welchen verantwortlichen Stellen Handlungsbedarf dringend notwendig ist.

Ab einer gewissen Größenordnung von Zweckentfremdungen, verursacht von einem/r Eigentümer:in, kann man eindeutig die systemische Abwicklung von Besitztümern ablesen. Das ist eine klare Handlungsanweisung zur Vergesellschaftung, um wertvolles und begrenztes Gut von Allgemeininteresse in verantwortungsvolle Nutzung zu überführen!

Außerdem birgt Leerstand immer Möglichkeitsraum, und somit viel ungenutztes Potenzial.

Wir unterstützen und begrüßen die Forderung von Mietenwahnsinn Nord nach gemeinwohlorientierter Umnutzung der Langzeit-Leerstände in der Osloer Straße 116a und der Stettiner Straße 38 zu Frauenhaus und Housing First!

Zusätzlich sind wir derzeit mit LittleHomes im Gespräch um auszuloten, ob bei uns gelistete Höfe und Brachflächen zur Aufstellung einiger Häuschen geeignet sein könnten. Vielleicht können wir in Zusammenarbeit mit einer wohlgesonnenen Bezirksverwaltung für den langen Zeitraum der Planungs- und Genehmigungsphase vor Baubeginn eine sinnvolle Zwischennutzung der Außenflächen etablieren.

Weitere Ideen und Kooperationen dieser Art sind herzlich willkommen. Durch gezielte Infos können wir dann den Blick unserer User für den Bedarf dieser Projekte schärfen.

Last but not least ist Leerstandsmelder.de ein gesellschaftliches Datenprojekt. Das heißt, wir dokumentieren und erfassen Fakten und Daten ohne Anspruch auf Vollständigkeit sozusagen von innen heraus, aus der Perspektive der Zivilgesellschaft und in der Sprache der Bewohner:innen. Das kann im Jetzt und im Kleinen hilfreich sein, und ist in großen Zeiträumen gedacht ein weiterer Beitrag zu einem „alternativen gesellschaftlichen Datenpool“ wie zum Beispiel auch „Wem gehört die Stadt“ . Das halten wir – in Ergänzung zu wissenschaftlicher oder staatlicher Datenerfassung – für sehr wichtig. Gemeinwohlorientierte Entscheidungen stützen sich auch auf Erkenntnisse und Daten, die über staatliche Erhebungen hinausgehen und diese ergänzen. Die Erfassung des Istzustandes ist Basis für alles Weitere. Wir glauben und hoffen, dass diese gesellschaftlichen Parameter künftig immer wichtiger werden.

Meine Frage an alle Bewohner:innen und Politiker:innen lautet deshalb: Wieviel geduldeten Leerstand kann sich Berlin leisten?