Mehr Milieuschutzgebiete, aber wenig Hoffnung für Mieter*innen

Wie oft die Bezirke mit Milieuschutzgebieten das Vorkaufsrecht ausüben oder Abwendungsvereinbarungen schließen, führen jährliche Berichte des Senats an das Abgeordnetenhaus aus. Hier sind die Ergebnisse als Ranking aufgelistet.

Ein Altbau in einem Milieuschutzgebiet, an den Balkonen hängen Transparente mit Aufschriften wie „Berlin, kauf‘ dich zurück“. Mittlerweile weiß jede*r, was hinter einer solchen Beflaggung steckt: Die Bewohner*innen kämpfen dagegen, dass ihr Haus an Immobilienspekulanten verkauft wird und hoffen, der Bezirk werde das Vorkaufsrecht zugunsten eines sogenannten Dritten ausüben. Dieser Dritte kann eine landeseigene Wohnungsbaugesellschaft, eine Genossenschaft oder eine Stiftung sein. Wie oft kommt das eigentlich vor und wo?

Seit einem Beschluss des Abgeordnetenhauses im Jahr 2017 legt der Senat ihm jedes Jahr zum 30. April einen Bericht über die Wahrnehmung von Vorkaufsrechten vor. Die Berichte umfassen den Zeitraum von 2015 bis 2020. Hier sind sie als Ranking aufgeführt und geben so unter anderem einen Blick auf den Verdrängungsdruck sowie die Aktivität der Bezirke. 

Von 22 sozialen Erhaltungsgebieten auf 64 –  doch der Ausverkauf geht weiter

Am 14. März 2015 trat die sogenannte Umwandlungsverordnung in Kraft. Sie ergänzte Regeln, die für Milieuschutzgebiete gelten. So sind zum Beispiel bauliche Veränderungen und Modernisierungen von Vermieter*innen genehmigungspflichtig. Die Umwandlungsverordnung machte die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen durch die Bezirke genehmigungspflichtig. Sie enthält allerdings Ausnahmen, in denen Bezirke einer solchen Umwandlung zustimmen müssen.

Milieuschutzgebiete heißen offiziell „soziale Erhaltungsgebiete“. Sie werden festgelegt, um die „Zusammensetzung der Wohnbevölkerung“ zu erhalten. „Milieuschutz“ meint nicht „Mieter*innenschutz“, sondern soll verhindern, dass durch die Verdrängung von Mieter*innen in andere Gegenden dort eine neue Infrastruktur aufgebaut werden muss – also zum Beispiel Kitas oder Seniorentreffs entstehen müssen oder der öffentliche Nahverkehr ausgebaut werden muss.

Milieuschutzgebiete, eigentlich „soziale Erhaltungsgebiete“, wurden ursprünglich festgelegt, um unter anderem Modernisierungsmaßnahmen von Vermieter*innen genehmigungspflichtig zu machen. Seit 2015 können die Bezirke auch ein Vorkaufsrecht ausüben. Ein Drittel der Berliner Mietwohnungen liegt in Milieuschutzgebieten.

Bezirke müssen prüfen, ob sie das Vorkaufsrecht ausüben können

Jeder Bezirk erfährt von jedem Hausverkauf, weil er in den Ablauf involviert ist. Käufer*innen lassen ihren Kauf über eine*n Notar*in abwickeln. Die oder der beantragt das sogenannte Negativzeugnis beim Grundbuchamt. Das ist eine einfache Bescheinigung: Die Gemeinde (bei uns der Bezirk), versichert darin, dass kein Vorkaufsrecht für das Grundstück eingetragen ist beziehungsweise dass es nicht ausgeübt werden soll. Ein Grundstückskaufvertrag darf nur dann vom Grundbuchamt ins Grundbuch eintragen werden, wenn das Negativzeugnis vorliegt.
Das allgemeine Vorkaufsrecht der Gemeinde ist nicht im Grundbuch eingetragen. Sobald sie von dem Verkauf erfährt, muss sie ihr Vorkaufsrecht innerhalb von drei Monaten ausüben. Der Kaufvertrag des ursprünglichen Käufers bleibt während dieser Frist wirksam, also bestehen.

Die Bezirke können nicht selbst entscheiden, in welchem Fall sie prüfen lassen, das Vorkaufsrecht auszuüben. Sie müssen dies in jedem Fall tun. Es gab jedoch schon Prüfverfahren, die nicht abgeschlossen wurden und deshalb nicht zu einem Vorkauf führten.

Die hohe Zahl der Vorkaufsrechtprüfungen im Jahr 2020 ist vor allem darauf zurückzuführen, dass der schwedische Immobilienkonzern Heimstaden viele Häuser in Milieuschutzgebieten erwarb

Abwendungsvereinbarungen sorgen für die Ruhe vor dem Sturm 

Das Vorkaufsrecht dient nicht dazu, Häuser in den Besitz der Kommune zu überführen – es soll Immobilienkäufer unter Druck setzen. Die Drohkulisse: „Wenn Ihr keine Abwendungsvereinbarung unterzeichnet, kaufen wir das Haus und Euch entgeht vorerst der Gewinn durch den Weiterverkauf oder die Wertsteigerung Eures Portfolios.“

Abwendungsvereinbarungen enthalten Absprachen darüber, was mit einem Haus innerhalb einer ebenfalls vereinbarten Zeit nicht passieren darf. Dazu gehören vor allem der Abriss, fachlich „Rückbau“ genannt, die Aufteilung in Eigentumswohnungen und Mietenpreistreiber wie energetische Modernisierungen außerhalb der gesetzlichen Vorschriften. Auch der Verzicht darauf, Balkone und Fahrstühle anzubauen, können Bestandteil der Vereinbarung sein.

Die Bezirke können nur vorkaufen, wenn sie zuvor eine Abwendungsvereinbarung angeboten haben. Gleichzeitig ist es auch ihr Ziel, Abwendungsvereinbarungen zu schließen.

Eine Abwendungsvereinbarung ist immer zeitlich befristet und kann sogar vorzeitig nicht mehr gelten, wenn ein Gebiet den Status „Milieuschutzgebiet“ verliert. Die Muster für Abwendungsvereinbarungen umfassen einen Zeitraum von 20 Jahren, sind aber selbstverständlich verhandelbar. Das heißt, über kurz oder lang werden die Mieter*innen dennoch verdrängt – und die außerhalb der Milieuschutzgebiete sowieso.

Fazit: Luxusmodernisierung verlangsamt, Verdrängung nicht aufgehalten

Berlin steht vor großen Problemen. Der internationale Immobilienmarkt hat sich unvergleichlich an der Mieter*innenstadt bedient und wird weder damit aufhören, weil mietpreistreibende Maßnahmen erst später greifen können, noch werden die großen und kleinen Immobilenfirmen aufhören, für ihre Profite zu sorgen. Das Vorkaufsrecht als Mittel gegen die Verdrängung der Mieter*innen ist ein stumpfes Schwert.

Vorreiter beim Vorkaufsrecht waren die Bezirke Tempelhof-Schöneberg und Friedrichshain-Kreuzberg. Sie übten 2015 zum ersten Mal das Vorkaufsrecht aus. Im Fall Tempelhof-Schöneberg ist der Kauf noch nicht rechtskräftig.
 

Ob das Vorkaufsrecht von den Bezirken ausgeübt wird, hängt selbstverständlich von verschiedenen Faktoren ab. Charlottenburg-Wilmersdorf hat in seinen zwei sozialen Erhaltungsgebieten, die es seit dem 1.9.2018 gibt, erst im Jahr 2020 zwei Vorkäufe geprüft bzw. prüfen lassen und hier Abwendungsvereinbarungen abgeschlossen.

Wer auf die Maßnahmen blickt, die Berlin seit 2015 bis 2020 ergriffen hat, um wenigstens seine Milieuschutzgebiete vor dem Ausverkauf zu retten, stellt fest: 80-mal wurde das Vorkaufsrecht ausgeübt, 292 Abwendungsvereinbarungen wurden geschlossen. Insgesamt betraf das 9.655 Wohnungen.

Die Zahlen stammen aus den Berichten über die Wahrnehmung von Vorkaufsrechten der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen.

Diese Recherche beruht auf einer Frage der Initiative GloReiche Nachbarschaft:
„Existiert eine Übersicht, wie viele Abwendungsvereinbarungen pro Bezirk/Monat/Jahr/Anzahl Häuser geschlossen wurden? “