Auf der Veranstaltung „Was tun gegen den Mietenwahnsinn?“ haben vier Spitzenkandidat*innen und ein Fraktionsvorsitzender die Fragen der mietenpolitischen Initiativen beantwortet. Wir haben uns pro Politiker*in eine Aussage herausgesucht, und sie einem Faktencheck unterzogen.

„Das kann ich ganz klar mit Nein beantworten, und so ist es auch nicht gemeint, und das ist auch nicht die Äußerung, die ich gemacht habe.“ *

* Franziska Giffey auf die Frage, ob sie mit ihrer Aussage, mehr als 30% Sozialwohnungsanteil im Neubau führten zu einem (Zitat) „Zuviel an sozialen Problemen an einem Platz“, die Aussperrung der Armen aus den Innenstadtquartieren meine

Stimmt das?

Nein. Franziska Giffey hat tatsächlich von einem „Zuviel an sozialen Problemen an einem Platz“ gesprochen. Die Äußerung machte sie während eines ganztägigen Pressetermins am 3. August, an dem sie Journalist*innen zu einer Busfahrt durch die Stadt geladen hatte. Frau Giffey wurde von Nicolas Šustr (nd.Der Tag) gefragt, was sie von einer Quote von 50% kommunalen Wohnungen im Bestand halte. Die Frage offensichtlich missverstehend, antwortete sie bezüglich einer Quote von 50% Sozialwohnungsanteil im Neubau. Den Kontext der Äußerung gibt Šustrs Transkription von Giffeys Antwort wieder, aus der unten auszugsweise zitiert wird:

„Ich habe immer eine Schwierigkeit damit, wenn man sagt: 50, 60, 80 Prozent sozialer Wohnungsbau. Was passiert denn da? Da passiert High-Deck-Siedlung, da passiert Köllnische Heide. Ich weiß nicht, ob Sie die Siedlungen kennen. Da ist genau das passiert: Ein Zuviel an sozialen Problemen an einem Platz. Dann kippen diese Quartiere. Und dann schaffen wir uns die Probleme der nächsten Jahre. Ich glaube, man muss mit der Frage ”Anteil von sozialem Wohnungsbau“ wirklich auch so umgehen, dass die gute Berliner Mischung erhalten bleibt, um letztendlich da auch langfristig die Quartiere zu haben, die funktionieren.“

Franziska Giffey

Was hat Frau Giffey mit ihrer Ausage gemeint?

In der Transkription findet sich ihr Begriff der „guten Berliner Mischung“. Auf den „Erhalt der Berliner Mischung“ durch eine zu schaffende „Möglichkeit, dass Menschen Wohnraum finden in der Stadt, egal, welches Einkommen sie haben“, ging sie auch auf der Veranstaltung “Was tun gegen den Mietenwahnsinn?“ ein. Dort präsentierte sie einen Drittelmix aus bezahlbaren Wohnungen für die Menschen in „großen sozialen Notlagen“ (Sozialwohnungen), bezahlbaren Wohnungen für Menschen im „mittleren Durchschnittsbereich“, deren Einkommen zu hoch für eine Sozialwohnung, aber zu gering für eine Luxuswohnung ist, und den hochpreisigen Wohnungen für die Besserverdienenden. Ihr Statement endete mit einer Erinnerung an die Schaffung von Wohnmöglichkeiten für die „Vielen im mittleren Bereich“, neben denjenigen in sozialen Notlagen.

Laut dem IBB Wohnungsmarktbericht 2020 (S.30) hatten im Jahr 2019 45% der Berliner Haushalte weniger als 2.000 EUR monatlich zur Verfügung. 27% verdienten zwischen 2.000 und 3.200 EUR monatlich, und 28% ab 3.200 EUR monatlich (S.29, Grafik). Die von Frau Giffey schematisch beschriebene Konstellation der Einkommensklassen, die auch ihrem Begriff einer guten Berliner Mischung zugrunde liegt – ganz viele Haushalte zwischen Sozialwohnungs-Berechtigung und hohem Einkommen – passt also nicht mit der gesellschaftlichen Realität in der Stadt zusammen. Die Gruppe der Verdienenden von bis zu 2.000 EUR bildet in Berlin die größte Einkommensklasse. Und auf diese gesamte Gruppe ist der soziale Wohnungsbau ausgerichtet.

Der Zugang zu einem sogenannten Wohnberechtigungsschein (WBS), der den Anspruch auf eine Sozialwohnung beglaubigt, ist in Berlin nach einer Art “Einkommens-Überschuss-Stufenmodell“ geregelt. Dieses legt fest, um wie viel Prozent das Einkommen eines Haushalts über der vom Bundesgesetz festgelegten Bemessungsgrenze für die WBS-Berechtigung hinausgehen darf, um diese noch erhalten zu können. Daraus ergeben sich zwei Förderwege: Über den 1. Förderweg sind alle Personen WBS-berechtigt, deren Jahreseinkommen die Bemessungsgrenze um bis zu +40% übersteigt (Verdienst von 16.800 EUR im Jahr, 1.400 EUR monatlich,). Für 2-Personen-Haushalte gilt die Grenze von 25.200 EUR jährlich und 2.100 EUR monatlich für beide Personen zusammen. Beim 2. Förderweg ist es möglich, die Bundesbemessungsgrenze um bis zu +60% zu überschreiten. 1-Personen-Haushalte sind damit bei einem Jahreseinkommen von bis zu 19.200 EUR WBS-berechtigt (1.600 EUR monatlich), für 2-Personen-Haushalte liegt die Grenze hier bei 28.800 EUR jährlich (2.400 EUR monatlich für beide). In beiden Förderwegen erhöhen Kinder im Haushalt die Grenzen zusätzlich. Wird in Rechnung gestellt, dass die überwiegende Mehrheit der Berliner Haushalte 1- und 2-Personenhaushalte sind (entsprechend 53 % und 28% aller Haushalte nach IBB Wohnungsmarktbericht, S.28), so lässt für beide Förderwege zusammen sich ein Sozialwohnungsanspruch für die Mehrheit der Berliner Haushalte annehmen. Der IBB-Bericht bestätigt, dass für das Jahr 2019 durchschnittlich 36,1% der Berliner Haushalte über den 1. Förderweg sozialwohnungsberechtigt gewesen waren (S.33). Zu den Förderberechtigten über den 2. Förderweg nennt der Bericht keine Zahlen. Die Staatssekretärin für Stadtentwicklung und Wohnen Wenke Christoph äußerte in einer Sitzung des Ausschusses für Stadtentwicklung und Wohnen am 18. August dieses Jahres, dass die Zahl der Berechtigten im Frühjahr 2020 auf 38% angestiegen sei. Inklusive der WBS-Berechtigungen über den 2. Förderweg sollen ihr zufolge in 2020 insgesamt 57% der Berliner*innen sozialwohnungsberechtigt gewesen sein.

Eine Aufteilung der Wohnungs-Kategorien beim Neubau nach dem von Franziska Giffey vorgetragenen Drittel-Prinzip ginge also zulasten der Mehrheit der Berliner Haushalte. Da unter jenen, die aktuell einen WBS besitzen, die besonders Niedrigverdienenden die größte Gruppe ausmachen (81% der WBS-Besitzer*innen in Berlin überschreiten die Bundesbemessungsgrenzen (12.000 EUR jährlich / 1.000 monatlich für 1 Person; 18.000 EUR jährlich / 1.500 EUR monatlich für 2 Personen zusammen) gar nicht, IBB-Bericht S.35), würde eine Mischung der Innenstadtquartiere, die auf einem solchen Drittel-Prinzip aufbaut, insbesondere zulasten der ärmsten Haushalte der Stadt gehen.

Hier geht’s zum Videomitschnitt der Veranstaltung „Was tun gegen den Mietenwahnsinn?“.